Der Tod ist die unvermeidliche Kränkung des Individuums, der dessen Sein auslöscht. Der Blick auf den Tod hat dennoch über die Jahrtausende Wandlungen erfahren.
Bernard N. Schumacher schreibt:
Der Tod beraubt uns nicht so sehr der Verwirklichung unserer Hoffnungen (wie auch unserer Möglichkeiten,
Entwürfe, Interessen, Wünsche) als vielmehr der Fähigkeit, uns Hoffnungen machen zu können. Wir können diese nicht mehr in die Zukunft entwerfen und an ihrer Verwirklichung mitwirken. Der Tod kann unsere transzendierenden Hoffnungen, die unseren Tod überdauern, nicht zerstören, aber er kann unsere Fähigkeit zunichte machen, Hoffnungen zu hegen und uns für die Verwirklichung dieser Hoffnungen einsetzen zu können.
In: Wittwer, H., Schäfer, D., & Frewer, A. (Hrsg.). (2020). Handbuch Sterben und Tod : Geschichte - Theorie - Ethik. J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung & Carl Ernst Poeschel GmbH. 2022
Er konstatiert, dass, obwohl der Tod und das Sterben aus unseren Alltagserfahrungen heute so weit wie möglich außen vor gehalten werden, die zeitgenössische Philosophie sehr wohl Ansätze zum Denken über Transzendenz, den Tod als Antithese zum Leben oder aber als immanentem Teil des Daseins findet. Sterben und Sterblichkeit ist erfahrbar - etwa beim Sterben Angehöriger. Das Wesen des Todes, seine Sinnhaftigkeit oder der Zustand des Lebewesens im Tod bleiben dagegen rätselhaft. Der Tod erscheint als Grenzpunkt philosophischen Denkens, bei Jean-Paul Sartre sogar als eine Erscheinung, die außerhalb der Existenz des Subjektes liegt.
Ob der Tod als Übel oder vielmehr als ein großes Gut des Daseins aufgefasst wird, hängt von unterschiedlichen Perspektiven ab: Epikur geht davon aus, dass Gut und Übel nur im Rahmen der Erfahrung eines Subjekts kategorisiert werden können. Da der Mensch im Tod nicht existiert, kann der Tod auch nicht als Übel definiert werden. Cicero und Plutarch, die die Antike repräsentieren, definieren den Tod als Befreiung von Leiden und Knechtschaft.
Bleibt die personale Dimension unberücksichtigt und blickt man auf den Menschen als biologische Funktion, so gilt das Ziel der Wissenschaft, den Tod als Beendigung dieses funktionalen Seins zu überwinden. Schumacher zitiert hier beispielsweise Baudrillard (ebd.):
Man kann mit Jean Baudrillard (1929–2007) sagen, dass der Tod "der Zuständigkeit der Wissenschaft unterliegt und [...] von der Wissenschaft aus der Welt geschafft [werde]. Das bedeutet im Klartext: der Tod ist unmenschlich, irrational, unsinnig wie die Natur, wenn diese nicht gezähmt ist [...]. Es gibt keinen guten Tod, es sei denn, er ist besiegt und einem Gesetz unterstellt" (Baudrillard 1976, 248). Das Ziel ist es, den "akzidentellen", also "unnatürlichen" Tod (als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit) zu besiegen. Dieser als gewaltsam beschriebene Tod fängt jeden Schwung auf die Zukunft ab. Er wird als ein "gesellschaftliches Ärgernis" (ebd.) angesehen, das auf eine persönliche oder gesellschaftliche Nachlässigkeit zurückzuführen ist (...)
Doch unabhängig davon ist es vor allem der medizinische Fortschritt - sowohl in der Intensiv- als auch in der Palliativmedizin, der Menschen zwingt, über die Grenze zwischen Leben und Tod sowie alle in dieser Lebensphase vorgenommenen Entscheidungen zu diskutieren und eine Haltung dazu zu entwickeln. Sterben und Tod scheinen gestaltbar geworden zu sein, Erwartungen und Hoffnungen auf ein "gutes Sterben" werden einerseits geweckt, das Zulassen natürlicher Prozesse andererseits erschwert.
Michael Rosentreter schreibt:
Es sind quantitative Faktoren, wie der vorzeitige und unerwartete Tod oder nicht realisierte Pläne, sowie qualitative Aspekte, wie das Verhältnis von erfahrenem Leid zu empfundenem Glück, die Desillusion autonomer Kontrolle (über Leben und den Tod) sowie die Eigenschaften und das Wirken einer Person, die den eigenen oder den Tod anderer als Übel oder günstige Fügung bewerten lassen.
In: Gerald Hartung, Matthias Herrgen (Hrsg.): Interdisziplinäre Anthopologie. 1. Tod und Sterben. Springer VS 2021
Daniel Kersting und Andrea M. Esser merken an, dass die vielfachen Eingriffsmöglichkeiten vor oder im Sterben auch Ansprüche wachsen lassen:
Am Beispiel der Sterbebegleitung lässt sich eine grundsätzliche Einsicht in Konzepte des guten Sterbens gewinnen. Die Anwendung solcher Konzepte läuft Gefahr, sich gegen ihre eigenen Intentionen zu kehren, wenn die in ihnen enthaltenen Vorstellungen des Guten zu fixen und unverrückbaren Leitbildern des Sterbens erklärt und damit in den Rang eines allgemein verbindlichen Prinzips gehoben werden. Dann nämlich kann gerade dem situativen Kontext und den sich daraus ergebenden, besonderen Anforderungen und Ansprüchen der Handelnden nicht mehr Rechnung getragen werden. Offenbar wird also mit jedem Konzept des guten Sterbens – das lässt sich als Zwischenfazit festhalten – auch die Möglichkeit eröffnet, dass das Individuum in seinem Sterben "scheitert".
In: Gerald Hartung, Matthias Herrgen (Hrsg.): Interdisziplinäre Anthopologie. 1. Tod und Sterben. Springer VS 2021
Die seit dem Mittelalter hochgehaltene "ars moriendi" könne demgegenüber als "Geflecht von Deutungsangeboten" aufgefasst werden, innerhalb dessen das eigene Sterben vor dem Hintergrund des individuell vollzogenen Lebens verstanden und danach beurteilt werden könne.
Literatur:
Héctor Wittwer, Daniel Schäfer, Andreas Frewer (Hrsg.): Handbuch Sterben und Tod: Geschichte - Theorie - Ethik. J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung & Carl Ernst Poeschel GmbH. 2022
Gerald Hartung, Matthias Herrgen (Hrsg.): Interdisziplinäre Anthopologie. 1. Tod und Sterben. Springer VS 2021